Landesarbeitsgericht Hamm, 7 SA 48/18 und Arbeitsgericht Bocholt, 2 CA 689/16
Ein Arbeitnehmer in der Endmontage eines Filtertechnologie-Unternehmens hatte in den Jahren 2011 bis 2016 Fehlzeiten wegen Krankheit von durchschnittlich 130 Tagen pro Jahr. Die Fehlzeiten waren
in der Regel kurz, aber häufig. Dadurch entstanden dem Unternehmen erhebliche Kosten für die Lohnfortzahlung, die Kompensation der ausgefallenen Arbeitszeit und durch
Produktionsausfälle.
Am 29.04.2016 erhielt der Arbeitnehmer die Kündigung zum 31.10.2016. Dagegen erhob der Arbeitnehmer Klage beim Arbeitsgericht Bocholt.
Die Klage wurde mit Urteil vom 19.12.2017 abgewiesen. Unter anderem wurde in den Urteilsgründen dargelegt, dass die Prognose der zu erwartenden zukünftigen Fehlzeiten zum Zeitpunkt der Kündigung
negativ war. Es war laut Feststellung des Gerichts nicht damit zu rechnen gewesen, dass der Arbeitnehmer zukünftig weniger als 6 Wochen pro Jahr krankheitsbedingt fehlen würde. Die 6-Wochen-Frist
ist eine vom Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz (5 Sa 152/11) definierte Grenze, die in der Rechtsprechung weithin anerkannt ist.
Das Abstellen auf die negative Prognose durch das Arbeitsgericht ist bemerkenswert, da das im Rahmen des Verfahrens erstellte Gutachten zu dem Schluss kam, dass es nicht zu erwarten sei, dass der
Arbeitnehmer zukünftig länger als 6 Wochen pro Jahr krankgeschrieben sein wird. Das Arbeitsgericht argumentierte aber, dass sich die Prognose des Gutachtens auf den Zeitpunkt der
Gutachtenerstellung beziehe. Maßgeblich sei aber der Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung beim Arbeitnehmer. Dieser war im April 2016. Das Gutachten wurde erst im Jahr 2017 erstellt. Zum Zeitpunkt
des Kündigungszugangs war aber eine deutlich negative Prognose gegeben. Dies hatte der Gutachter in der mündlichen Erörterung mitgeteilt.
Zum Verständnis dieser erheblichen Diskrepanz zwischen der Einschätzung zum Zeitpunkt der Kündigung und dem Zeitpunkt des Gutachtens will ich hier auf die Gründe für die Gesundheitsprobleme des
Arbeitnehmers eingehen. Dieser hatte in den Jahren vor der Kündigung laufend mit Eheproblemen zu tun. Die Trennung von seiner Frau hat dann nach der Kündigung offenbar zu der wesentlichen
Verbesserung seines Gesundheitszustands geführt.
Trotzdem sah das Gericht die Kündigung als rechtmäßig an, da es eben auf die Prognose zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs ankomme.
Erwähnenswert ist noch, dass bei einer Kündigung wegen Krankheit die Fehlzeiten der Vergangenheit für sich genommen unerheblich sind. Es kommt allein auf die zukünftig zu erwartenden Fehlzeiten
an.
Der Arbeitnehmer legte gegen das Urteil das Arbeitsgerichts Berufung beim Landesarbeitsgericht Hamm ein. Dieses gab der Berufung insofern statt, als es die Kündigung der Arbeitgeberin für
unwirksam erklärte.
Die Arbeitgeberin habe es nämlich unterlassen, ein sogenanntes betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) durchzuführen. Dazu ist ein/e Arbeitgeber/in verpflichtet, wenn ein/e Arbeitnehmer/in
innerhalb eines Jahres länger als 6 Wochen arbeitsunfähig krank ist (§ 167 Abs. 2 SGB IX). Dies soll dazu dienen, die Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen und zukünftige Arbeitsunfähigkeit zu
verhindern.
Die Arbeitgeberin hatte mit dem Arbeitnehmer zuvor schon einmal ein BEM durchgeführt und ihm am 16.10.2015 ein weiteres angeboten, das dieser aber ablehnte. Das Landesarbeitsgericht stellt dazu
fest, dass die Arbeitgeberin vor der Kündigung noch einmal ein BEM hätte durchführen müssen. Denn die Arbeitnehmerfehlzeiten haben nach dem Angebot vom 16.10.2016 erneut die 6-Wochen-Grenze
überschritten.
Damit wird klargestellt, dass § 167 Abs. 2 SGB IX nicht nur ein BEM pro Jahr vorschreibt, sondern immer dann, wenn die 6-Wochen-Grenze überschritten wird, auch wenn dies mehrmals pro Jahr der
Fall ist.
Aufgrund dessen, dass kein BEM durchgeführt wurde, war die Kündigung nach Auffassung des Landesarbeitsgerichts sozial ungerechtfertigt und unverhältnismäßig.
Das Urteil zeigt, dass der Gesetzgeber für krankheitsbedingte Kündigungen hohe Hürden aufgestellt hat. Den Arbeitnehmern unter euch sollte dies Hoffnung machen, wenn eine Krankheit euch mal ausbremst, da zumindest die Angst um euren Arbeitsplatz euch nicht noch zusätzlich belastet.