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Kein zweiter Prozess wegen derselben Tat

Das Bundesverfassungsgericht hat am 31.10.2023 sein Urteil verkündet, in dem es ein Gesetz (Paragraf 362 Nr. 5 der Strafprozessordnung) aus dem Jahre 2021 für verfassungswidrig erklärt, nach dem eine Person wegen derselben schwersten Straftat (z.B. Mord), die ihm zur Last gelegt wird, erneut vor Gericht gestellt werden darf, wenn es neue Beweismittel gibt, aufgrund derer eine Verurteilung wahrscheinlich ist.

 

Der Gesetzgeber wollte mit dieser Erweiterung der Wiederaufnahmegründe zuungunsten eines Angeklagten mehr Gerechtigkeit schaffen, da das Festhalten an dem Grundsatz des Verbots der nochmaligen Verfolgung derselben Tat in Fällen besonders schwerer Verbrechen zu „unerträglichen“ Ergebnissen führen würde. Dies ist aus Sicht von Angehörigen und Freunden der Opfer absolut nachvollziehbar.

 

Das Gericht hat die Sicht der Opfer zwar in seine Erwägungen einbezogen. Mit den Nummern 1 bis 4 des Paragrafen 362 der Strafprozessordnung gibt es auch schon eng begrenzte Ausnahmen von dem Grundsatz der Mehrfachbestrafung. Dennoch gelangte es letztendlich zu der Auffassung, dass mit der Erweiterung des Paragrafen 362 der Strafprozessordnung der Kern des Verbots der Mehrfachbestrafung verletzt ist.

 

Das Verbot der Mehrfachbestrafung ist in Art 103 Absatz 3 des Grundgesetzes geregelt. Dieser lautet „Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.“ Der Kläger in dem hier besprochenen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht wurde wegen einer im Jahre 1981 begangenen Tötung einer Schülerin zum zweiten Mal wegen Mordes angeklagt, da lange nach der Tat seine DNA an der Kleidung des Opfers nachgewiesen wurde. Bei dem ersten Prozess wurde er freigesprochen. Nun könnte man meinen, dass bei diesem Sachverhalt kein Fall des Artikel 103 vorliegt, da der Angeklagte ja noch nicht bestraft wurde. Es ist allerdings allgemeine Meinung, dass mit der Vorschrift auch dann eine zweite gerichtliche Verfolgung einer Tat verboten ist, wenn bei der ersten ein Freispruch erfolgte. Denn die Vorschrift soll verhindern, dass eine rechtskräftig abgeschlossene gerichtliche Verfolgung einer Tat willkürlich erneut aufgenommen werden kann.

 

Im Gegensatz zu den Nummern 1 bis 4 des Paragrafen 362 der Strafprozessordnung, die ganz präzise Tatbestände festlegen, bei denen eine erneute Verfolgung einer Tat möglich ist (z.B. Urkundenfälschung zugunsten des Angeklagten), spricht die neu eingeführte Nummer 5 von „neun Tatsachen oder Beweismitteln …. die dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte … verurteilt wird.“ Das lässt einen gewissen Spielraum der Auslegung und führt dazu, dass die Rechtskraft von Urteilen aufgeweicht wird und der von der Rechtsordnung und der Gesellschaft angestrebte Rechtsfrieden keinen Bestand mehr hat. Hätte die für verfassungswidrig erklärte Regelung weiterhin Bestand, kann man davon ausgehen, dass sich zurecht freigesprochene Angeklagte jahrzehntelang mit weiteren (privaten oder polizeilichen) Ermittlungen konfrontiert sehen, weil andere Akteure sie trotz Freispruchs für die wahren Täter halten. Wenn es nicht wenige Fälle unschuldig verurteilter in einem ersten Prozess gibt, dann ist es nicht ausgeschlossen, dass ein Unschuldiger nach einem Freispruch in einem zweiten Verfahren verurteilt wird.

 

Selbst wenn in Einzelfällen ein echter Täter ungestraft davonkommen sollte und sich dann auch noch darauf verlassen kann, dass ihm „nichts mehr passieren“ kann, führt die strikte Auslegung des Artikels 103 Absatz 3 des Grundgesetzes insgesamt zum besseren Ergebnis, da sie uns Bürger schon vor einer ansatzweisen Willkür des Staates schützt.